99 neue Leuten mögen dich

Gematcht, gedatet – und den digitalen Heiratsmarkt beobachtet. Über die Datingplattform Tinder und unzählige Busfahrten zwischen Wien und München. 

Frühsommer 2014. Ich sitze im Flixbus Richtung München – auf dem Weg zu einem Mann, den ich noch nie gesehen habe. Wenige Wochen zuvor hat ihn mein jüngeres Ich in der Tinderapp entdeckt. Eine Handvoll Bilder, ein ausführlicher, sympathischer Begleittext. Eigentlich nicht mein Typ, denke ich zunächst, und wische dann doch nach rechts. Man muss doch das Schicksal auch ein wenig fordern! In der Tat: Es ist ein Match.

2012 gegründet, feiert Tinder 2014 zum Launch im deutschsprachigen Raum gleich seinen ersten Hype: Online-Dating mit niedriger Zugangsschwelle – und kostenlos. Wie beim Durchscrollen des Bettwäsche-Angebots im Ikea-Online-Shop kann man potenzielle Partner sortieren: Die Guten wischen wir nach rechts, die Schlechten nach links. Das ruft zunächst einmal die Spötter hervor. Der Hohn und die Häme, die Tinder und seinen Nutzern in den Anfangszeiten entgegenschlagen, scheinen grenzenlos. Kaum ein Medium – je nach Niveau –, das nicht einen Tinder-Selbstversuch oder eine Metaanalyse über die Ökonomisierung von Partnerschaften veröffentlicht („Warum wir emotionale Krüppel sind“) und teils wüst über die Profile herzieht. Das bleibt nicht ohne Folgen: „Unseren Kindern sagen wir, wir haben uns im Supermarkt kennengelernt“, war in Variationen der meist verwendete Beschreibungstext der Tinderprofile, durch die ich mich in diesen Tagen klicke. Dass ich Journalistin bin, verschweige ich nicht. „Bin ich ein Versuchskaninchen?”, fragen die Kandidaten dann. Noch viel häufiger als „Wanna bang? – auf Deutsch: „Willst du Sex?“ Dieser Satz wird Tinder-Usern in der Berichterstattung allzuoft in den Mund gelegt. Ein Grund, weshalb die App auch bald in Verruf gerät.

Es gibt auch böse Menschen im Internet

Nicht jeder ist in der echten Welt auch der, für den er sich im Internet ausgibt: Im Flixbus überprüfe ich deshalb alle Informationen erneut und google die Anhaltspunkte, die ich aus dem Chatverlauf herauslesen kann. Schließlich gibt es auch böse Menschen im Internet, das ist nicht anders als in der analogen Welt. Aber: Alles stimmt. Er arbeitet in einem Ingenieurbüro und macht ein Aufbaustudium nebenher. Eine alte Beziehung ist zerbrochen. Nun scheint es, als wolle er sein Glück digital anstupsen. Wer zuerst geschrieben hat, wissen wir hinterher gar nicht mehr. Man ist einfach ins Reden gekommen.

„All In“ heißt das Zauberwort in den Arbeitsverträgen meiner Generation. An unbezahlten Überstunden fehlt es uns nicht. An Gelegenheiten, einen Partner zu finden, schon eher. Wo und wann bitte sollen wir die Traummänner und Traumfrauen aufspüren, von denen zuerst Walt Disney und dann Hollywood gesagt hat, dass wir sie eines Tages treffen werden? Um 5.30 Uhr klingelt mein Wecker, um 6.30 Uhr versuche ich, die Kinder angezogen beim Frühstückstisch zu haben, um 7.45 Uhr sollen sie in der Schule sein und ich kurz davor oder kurz danach an meinem Arbeitsplatz. Um 17 Uhr gehe ich los, um die Kinder wieder einzusammeln und die so genannte Care-Arbeit zu erledigen. Wird der Nachwuchs anderweitig betreut, sitze ich bis 21 Uhr im Job, um Liegengebliebenes abzuarbeiten. Dazwischen ruft die Französisch-Lehrerin an: Das Kind brauche halt Unterstützung, sagt sie – und ich bin mir nicht sicher, ob sie mir damit sagen möchte, ich solle gefälligst halbtags arbeiten gehen oder einen Nachhilfelehrer bezahlen. Vielleicht sollte ich mir einen Franzosen tindern?

Wo bitte sollen wir die Traummänner und Traumfrauen aufspüren, von denen zuerst Walt Disney und dann Hollywood gesagt hat, dass wir sie eines Tages treffen werden?

Der Flixbus fährt an Linz vorbei in Richtung Salzburg. Ich denke an den Pfarrer, den Michael Niavarani in „Wanted“ spielt. „Was soll schon passieren so allein am Stadtrand in der Dunkelheit?“, sagt er in dem Film. Dann wird ihm von hinten eins über den Schädel gezogen. Was soll schon passieren? Das frage ich mich auch, während der Bus durchs Salzburgerische rattert. Ich verfluche meinen jugendlichen Leichtsinn: Wer wird mich da am zentralen Omnibusbahnhof abholen? Dann beruhige ich mich wieder. Ich habe ein gutes Netzwerk in München. So mancher Projektpartner dort wäre über einen abgesetzten Notruf vermutlich erst mal verwundert, nähme sich aber, da bin ich mir sicher, bereitwillig meiner an. Meine Sitznachbarin bemerkt meine Nervosität. Wir plaudern. Auf meinem Display blinkt der Handyakku. Fast kollabiere ich.

Work-Work-Balance hat uns im Griff

Auch meine Single-Freundinnen ohne Kinder streifen längst nicht mehr nachts durch die Bars auf der Suche nach Mr. Right. Die Work-Work-Balance hat uns alle fest im Griff: Wie können wir leisten, wenn wir lieben? Dieses Dilemma ist keine Erfindung der Neuzeit: Im Brief vom 26. Mai lässt Goethe seinen Werther, während dieser verzückt über die Schönheit eines abgebrochenen Wagenrads unter einer Linde sitzt, über die Kunst und die Liebe sinnieren. Ein Jüngling, der sein Herz ganz an ein Mädchen hängt, verschwendet für sie alle Stunden seines Tages, all seine Kräfte und all sein Vermögen – zum Unmut des Philisters, der das Leben pragmatischer sieht: Zuerst einmal die Fixkosten abziehen und dann kann man ihr immer noch Geschenke kaufen … „Theilet eure Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden widmet eurem Mädchen.“

Meine Erholungsstunden verbringe ich nun also in München. Der Bus fährt ein. Es wird dämmrig und ich werde bereits erwartet. Wir verstehen uns auf Anhieb. Finden unser Stammlokal. Gehen segeln. Ins Museum. Rasch ist klar: Wir haben eine gemeinsame Zukunft. Als gute Freunde. Ist das nicht sogar mehr, als man von Tinder erwarten kann?

Adolph Freiherr von Knigge empfiehlt in „Über den Umgang mit Menschen“ von 1788 eindringlich, den Ehepartner aus Zuneigung zu wählen. In unseren Köpfen hat sich das Ideal der romantischen Liebe fest verankert. In meinem Kopf sammeln sich auch andere Geschichten: „Meiner war nicht so garstig“, erzählt die alte Frau im Haushaltskleid auf dem Parkbankerl in einer der legendären „Alltagsgschichten“ von Elizabeth T. Spira. „Gehaut hat er mich nur, wenn er betrunken war.“ Vielleicht, überlege ich, liegt das Unromantische im Leben gar nicht an Tinder?

Ich verlege meine Tinderdates ins Museum: Uninteressante Gesprächspartner kann man einfach zum nächsten Bild weiterschieben. Im schlimmsten Fall wird aus dem Date eine Ausstellungsbesprechung. Ich schreibe viele Besprechungen in dieser Zeit. Der Tinderalgorithmus wird professioneller: Er verknüpft im Laufe der Jahre immer besser meine Interessen, mit denen meine Social-Media-Profile verknüpft sind, mit denen von potenziellen Partnern. Männer mit Badehosen-Fotos sortiert er von alleine aus. Oder gibt es die gar nicht mehr? Je professioneller Tinder wird, desto mehr Menschen lerne ich kennen, die in der selben Branche tätig sind wie ich: Fotografen, Datenforscher, Grafiker. Viele sind auf Geschäftsreise und wollen den Feierabend mit einem intelligenten Gegenüber verbringen. So gut passen die Interessen, dass sich auch berufliche Projekte ergeben: ganz ohne Umweg über die Liebe. Auch im Büro matcht es.

Neunundneunzig neue Leute mögen dich, sagt Tinder zur Begrüßung, als ich die App nach dem Auftrag zu diesem Text öffne, sieben Jahre nach dem ich mich zum ersten Mal auf Tinder angemeldet habe. Ein Walter lacht mich an. Walter liebt gutes Essen und Gin. Er beschreibt sich als „entspannt,­ humorvoll, unkompliziert und romantisch“. Ach Walter, denke ich, die Romantik ist doch tot, außer im Einzelhandel am Valentinstag! Ich wische nach links, schließe die App wieder und klicke auf WhatsApp: „Und was machst du so am Valentinstag?“, schreibe ich meinem alten Freund in München. Vielleicht nehm ich den Flixbus…

Der Text erschien am 13. Februar 2020 in DIE FURCHE

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