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 Faimme: Schneewittchenpsychose – Die Premierenkritik

Ein Theaterstück über Essstörungen, Perfektionswahn, Globalisierung, Medienwelten. Schneewittchenpsychose schafft es dabei weder aufgesetzt, noch dramatisch oder belehrend zu wirken. Zu sehen bis 21. Juni 2010 im Dschungel Wien.
Tagebuchartig führt uns Nana durch ihre Welt: 30 Äpfel pro Tag kannst du essen ohne zuzunehmen, bis zu 5 Liter Wasser pro Tag helfen gegen den Hunger, das Leben in der Klinik ist streng reglementiert, Mittagessen inklusive Dessert darf nicht länger als 30 Minuten dauern, sie kontrollieren dein Gewicht, sie kontrollieren deine Nahrungsaufnahme und das, was du aussscheidest: – Scheiße! Trostlos wäre das Leben, wenn da nicht die 

Königin wäre, die Königin Anorexia nervosa, die aus jedem Mädchen etwas Besonderes macht. Und die dich nicht nur mit einem lockeren “Hey, sister!” aufmuntert, sondern dir auch mit gutem Rat zur Seite steht: “Let me die young” betört sie Nana, solange, bis sie mitsingt. “Let me die young”, singen sie und es ist wie ein Schlaflied, wären da nicht die Brechgeräusche als Backgroundmusik zu hören.

Große Textflächen

Hart an die Grenze geht “Schneewittchenpsychose”, mit viel gutem Text (endlich wieder einmal ein Stück mit großen Textflächen), oft poetisch, oft direkt. Dazwischen greift die Autorin Sophie Reyer immer wieder auf bekannte Werbeslogans zurück, die sich im richtigen Ambiente endlich als das entlarven lassen, was sie eigentlich sind: gefährliche Suggestionen, die bewusst falsche Bilder in die Köpfe der Menschen transportieren, denen wir schließlich hilflos ausgeliefert sind.


Schluck es runter

Regie (Tanja Witzmann) und Dramaturgie (Alexander Matthias Kosnopfl) haben klare Figuren herausgearbeitet, die den Kampf gegen den Hunger, und die Suche nach (Selbst)Liebe, das Hin und Hergerissen sein zwischen dem Willen zum Leben und der Sehnsucht nach dem Tod mehr als deutlich machen. Anorexie wird auf der Bühne lebendig, sie wird greifbar. Nana kämpft hart um ihr Leben, oft lässt sie sich davon überzeugen, und oft lässt sie sich wieder vom Tod verführen. Sichtbar wird die Verletzlichkeit des Menschen. Und als Zuschauer fragt man sich bald: welche  Ideale, welche Bilder produzieren wir eigentlich, Tag für Tag? Und verlangen wir nicht zu viel von unseren Kindern? Schluck es runter, sagt die Königin. Schluck sie runter, die Vokabeln. Schluck runter, die Angst. Schluck sie runter, die spöttischen Bemerkungen deiner Klassenkameraden über deinen schlaffen Busen. Du bist ja das nette brünette Mädchen, das gut Klavier spielt und im Zeugnis lauter Einser hat. Das Mädchen, das anders ist als die anderen, aber so, dass es grad nicht auffällt. Die Königin lässt Nana flüchten: je weniger Körper, desto weniger Angriffsfläche.

Spannung zwischen Authentizität und Poesie

Die Darstellerinnen Ruth Ranacher, Gina Mattiello und Heike Möller sind perfekt aufeinander abgestimmt. Anfangs ist der Zuschauer noch unsicher in seiner Reaktion auf das Bühnengeschehen: ist das jetzt Farce, ist das Ernst, soll man Lachen, soll man Weinen? Aber zunehmend entwickelt sich eine wahre Geschichte, die alle mitnimmt – in beiderlei Wortsinn. Dem gesamten Team gelingt  es bald eine Spannung zwischen Authentizität und Poesie aufzubauen, die bis zum Ende scheinbar mühelos aufrechterhalten werden kann. Und am Ende überwiegt ein Hauch von Nanas kindlicher Traumwelt im Publikum, so dass sich der Saal nur sehr zögerlich leert. Ein schweres Thema, ohne aufgesetzt, dramatisch oder belehrend zu wirken. Aber “Schneewittchenpsychose” ist nicht nur eine Stück über Essstörungen, sondern genauso über Perfektionswahn, über Globalisierung, über Medienwelten. Auf alle Fälle ein wichtiges Stück zu einem wichtigen Thema. Ein MUSS in der ausklingenden Theatersaison. 

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