Vor zwei Jahrzehnten gelang Erwin Wurm mit seinen „One Minute Sculptures“ der internationale Durchbruch. Im Kunsthaus Graz greift er die Idee wieder auf und denkt sie weiter. Allen kritischen Stimmen zum Trotz: Erwin Wurms Werke haben an Faszination nichts verloren.
Haben Sie sich schon einmal einen Kübel auf den Kopf gesetzt und die postmoderne Leichtigkeit genossen? Nein? Dann haben Sie etwas versäumt. 20 Jahre ist es her, dass Erwin Wurm mit seiner Idee der „One Minute Sculptures“ der internationale Durchbruch gelang. Seither zählt er zu den auch international erfolgreichsten zeitgenössischen Künstlern Österreichs. Das Kunsthaus Graz hat ihn eingeladen, eine Ausstellung zu gestalten.
Herausgekommen ist: „Fußballgroßer Tonklumpen auf hellblauem Autodach“ – eine Handvoll Objekte, die die Idee der „One Minute Sculptures“ wieder aufgreift. Der titelgebende Tonklumpen auf dem Autodach ist nicht dabei. Oder doch?
Was zu sehen ist – und das, was nicht zu sehen ist –, hat Wurm eigens für diese Ausstellung gestaltet. Einige Arbeiten nehmen Bezug auf die Werke anderer Künstler oder erweitern diese: Fritz Wotrubas „Liegende Figur“ wird zur Wurm’schen Wurstsemmelablage.
Eine Figur von Josef Pillhofer aus Bronze hat Wurm auf vier Meter vergrößert und mit Klettergriffen bestückt – eine Versuchung für junge Ausstellungsbesucher und eine Herausforderung für ihre Begleitpersonen. Und „Der Gurk“, ein über 400 Kilo schweres bronzenes Essiggurkerl, hat Roberts Rauschenbergs „Door“ umgeschnallt. – Wurstsemmeln auf Kunstwerke legen, darf man das? Auf Kunstwerke klettern, erlaubt? Die Pillhofer-Reminiszenz offenbart eine der Wurm-Fallen, in die wir immer tappen: Sie ist aus Styropor gebaut.
Wurm, weltweit
Ab wann wird eine Skulptur zur Skulptur? In seiner Kindheitsstadt Graz stellt Wurm sein Lebensthema erneut zur Debatte und
gibt dem Besucher einen Kübel in die Hand. Aufsetzen, „im Namen der Kunst“, sagt die Gebrauchsanweisung auf dem Sockel, eine Kübel-Lampe macht vor, wie’s geht.
An Wurm vorbeizukommen ist heuer praktisch unmöglich: Bei der Biennale in Venedig bespielt er mit Brigitte Kowanz den Österreich- Pavillon, im Wiener Leopold Museum hat er sein Werk dem Schaffen von Carl Spitzweg gegenübergestellt, vor dem Belvedere ist sein „Fat House“ aufgebaut und neben der aktuellen Ausstellung im Grazer Kunsthaus war er dort auch im Atelier Contemporary – hier mit Markus Huemer – in „Land der Berge“
zu sehen. Das 21er Haus eröffnet seine Wurmiade – Erwin Wurm – Performative Skulpturen – in diesen Tagen, eine Wurm-Schau in New York ist soeben abgelaufen, Wurms Riesen- Gurkerln in der Salzburger Altstadt sind ganzjährig zu besichtigen.
Erwin Wurm könnte es sich längst einfach machen, und genau das werfen Kritiker ihm auch vor. Die Auflösung des Skulpturalen, ein Durchbruch, zweifelsohne, aber das wäre nun schon längst ein alter Hut. Wo bleibt das Neue, Herr Wurm? Das Neue, die „konsequente Fortsetzung hinter Wurms Werken im Kunsthaus Graz ist die Fortschreibung des Skulpturalen ins Imaginäre: Zwei leere Sockel werden im Kunsthaus abwechselnd zur Bühne, hier rufen Performer Skulpturen aus, die in den Köpfen der Besucher entstehen, darunter auch der fußballgroße Tonklumpen. Eine Skulptur gemacht aus Vorstellungskraft – ist das zu simpel? Wurm sagt, damit hat er sich den Raum im Kunsthaus erkämpft, in dem durch und durch biomorphen Gebäude: „Der Ausstellungsraum ist schwierig, weil er keine Koordinaten vorgibt. Eine Höhle mit einem flachen Boden, schwer das Ende und Anfang des Raumes zu definieren“, erzählt er auf der Museums-Website. Er hat versucht „etwas reinzubringen, das sich behauptet“. Ist die Schau ein Weiterdenken einer genialen Idee oder doch nur hausbackene Retrospektive?
Zu Recht sagen Kritiker: 2017 ist nicht nur das Jahr, in dem Wurms Werke die Kunstwelt überschwemmen – 2017 ist auch das Jahr, wo Erwin Wurm den Goldenen Löwen nicht gewonnen hat. Ob simpel oder nicht, ob alt der neu: Das Faszinierende ist: um den Kübel im Kunsthaus ist ein G’riss, die „One Minute Sculptures“ funktionieren noch immer. Wurm eröffnet Perspektiven und sorgt für Weitblick. Nehmen Sie den Kübel vom Kopf, Sie werden sehen.
Der Text erschien im Juni 2017 in: Die FURCHE
Fußballgroßer Tonklumpen auf hellblauem Autodach
Kunsthaus Graz
24.3.-20.8. 2017