Der lange Schatten von Tschernobyl

 

Seit 1993 fotografiert Gerd Ludwig in Tschernobyl die Umgebung, die verlassenen Gebäude, die hoffnungslosen Menschen. Nun zieht er in einer Sonderausstellung im Naturhistorischen Museum Wien eine visuelle Bilanz. Zu sehen sind seine drastischen Bilder voller Tragik bis 1.9.2014 bzw. im Bildband „Der lange Schatten von Tschernobyl“, erschienen bei Edition Lammerhuber.Der Stress zwischen dem puren Überlebensinstinkt und dem Drang als Fotograf Bilder von einem Ort zu liefern, den kaum ein Mensch je betreten wird können. So beschreibt Gerd Ludwig seine 15 Minuten im Reaktor Tschernobyl. Eine bloße Viertelstunde war dem Fotografen gegeben, um – mit entsprechender Schutzkleidung und einem Geigerzähler ausgestattet – das Innere von Reaktor IV zu dokumentieren. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, sind ihm dabei beeindruckende und beklemmende Bilder gelungen, die in einer Ausstellung im Obergeschoß des Naturhistorischen Museums in Wien gezeigt werden. Das Fotoprojekt, das über Crowdfunding finanziert wurde, war ursprünglich als Bildband geplant und wurde auch als solcher in der Edition Lammerhuber veröffentlicht. Neben den (Farb)fotos rufen uns einerseits Infotafeln und Videoausschnitte die Katastrophe der Chronologie des Reaktorunfalls Ende April 1986 wieder in Erinnerung (erstaunlich, ich war damals erst fünf Jahre alt, erinnere mich aber noch sehr deutlich an die Warnungen vor dem radioaktiven Regen, der uns Kindern auch in Wien bedrohlich war), und andererseits zeigen sie gut strukturiert die Arbeit des Fotografen selbst.Offene Fragen fliegen durch den Raum. Ohne Rast. Ohne Ziel.

Die Bilder sind thematisch gegliedert und hängen wie vier große Kapitel an den Wänden: das Innere des Reaktors, der (undichte) Sarkophag, die absurden Auswüchse des Katastrophentourismus (Guides mit strahlenden Atomkraftwerkskontaktlinsen), die Geisterstädte, die von der Natur zurückerobert werden und nicht zuletzt auch „die unschuldigen Opfer“, was pathetischer klingt als es aussieht: Kinder in Alltagssituationen, an Krebs Erkrankte,  behindert Geborene, in Heimen Vergessene mit dem Fokus auf Details des (tristen) täglichen Lebens. Interessant auch der Augenmerk auf die vielen offenen Fragen, auf die die ehemaligen Bewohner Tschernobyls keine Antworten bekommen können: die Sehnsucht der Alten, die traumatisiert und überstürzt ihre Heimat verlassen mussten und sich in der anonymen Fremde nicht zu recht finden: Wo werden wir eines Tages begraben werden? Und die Angst der Jungen die jetzt ins zeugungs- und gebärfähige Alter kommen: Wie wird sich die Strahlung auf unsere Kinder auswirken? Gerd Ludwig lässt diese Fragen aus den Bildern springen und durch den Raum fliegen, ohne Rast und ohne Ziel. Gekonnt wird zwischen den Zeilen auch immer wieder eine Brücke zu Fukushima geschlagen, so sind u.a. Videodokumente zu sehen, die ehemalige Arbeiter Tschernobyls mit der Katastrophe in Japan konfrontiert. Gerd Ludwig widmet sich den Folgen des Unfalls. Und auch wenn wissenschaftlich gesehen kaum nachweisbar ist, welche Missbildungen, welche Krankheiten, welche Kinderwasserköpfe in der Region auch  tatsächlich auf die Explosion im Reaktor zurück zu führen sind, die Folgen von Tschernobyl „sind ein Feuer, das nie mehr gelöscht werden kann.“ Man sollte sich das ansehen.

Buch-Tipp:
Gerd Ludwig: Der lange Schatten von Tschernobyl
Mit einem Essay von Michail Gorbatschow
Verlag: Edition Lammerhuber (2014)

Ausstellungstipp:
Der lange Schatten von Tschernobyl
Fotografien von Gerd Ludwig
Bis 1.9.2014
Naturhistorisches Museum Wien

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